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Leibchel |
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Michael Wesely hat seit 2002 eine Serie von Fotografien gemacht, die unter dem Titel Ostdeutschland zusammen gefasst sind. Als Aufnahmegerät benutzte er eine Camera Obscura ohne optische Linse. Weselys Apparat funktioniert also wie eine Lochkamera, ein Gerät, bei dem Licht durch ein kleines Loch in die dunkle Kammer fällt. Allerdings hat Weselys Aufnahmegerät keine kreisförmige Öffnung, sondern einen Spalt für den Lichteinfall. Seit der Erfindung der Lochkamera haben Künstler das Gerät als Hilfsmittel benutzt. Die Bilder einer solchen Kamera sind von unendlich gleichmäßiger Tiefenschärfe, so dass die räumliche Wahrnehmung zurück tritt und alles wie gezeichnet wirkt. Die ostdeutschen Landschaften, nämlich die Ansichten von Dresden, Königstein oder Pirna, die der aus Venedig stammende Maler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, in der Mitte des 18. Jahrhunderts malte, verdanken ihre Detailgenauigkeit der Verwendung einer Lochkamera für die entsprechenden Vorzeichnungen. Der Vergleich der Bilder Weselys mit denen von Bellotto ist insofern erkenntnisreich, als beide mit derselben optischen Apparatur gearbeitet haben und dennoch zu völlig verschiedenen Ergebnissen gekommen sind. Der Unterschied liegt offensichtlich nicht im optischen Prinzip, sondern in der Art des Blicks, d.h. der Form der Öffnung in der Bildscheibe. Bernardo Bellotto arbeitete als Hofmaler für Friedrich August II., einen absolutistischen Herrscher. Dessen Machtanspruch entspricht die Ansicht der Welt, welche das Loch in der Kamera bei großer Bildweite abbildet. Detailliert und unendlich scharf misst sie den Machtbezirk des Fürsten bis in den letzten Winkel exakt aus. Michael Weselys Ansichten von Orten in Ostdeutschland sind mit Hilfe einer Schlitzkamera entstanden. Dadurch dass der horizontale Spalt in der Bildscheibe etwa eben so breit ist wie der Film auf der Rückwand, geht die horizontale Vielgestaltigkeit völlig verloren. Abgebildet werden horizontal verlaufende Schichten, wobei in jeder Schicht die Summe der jeweiligen Farben und Formen zusammen gefasst werden. Sichtbar wird eine Welt, die für Unterwerfung nichts mehr hergibt. Während die Bildtitel von Belotto die Namen mächtiger Residenzen nennen, tragen Weselys Werke aus der Serie Ostdeutschland als Titel Ortsnamen, die weitgehend unbekannt sind. Leibchel heißt ein kleiner Ort in Brandenburg, irgendwo im Spreewald zwischen Berlin und Cottbus. Die Gemeinde Märkische Heide, zu der Leibchel gehört, stellt auf ihren Tourismus-Seiten den Ort so dar: Ein stiller Dorfflecken ist Leibchel, der noch immer Landwirtschaft verkörpert, umzingelt von reifenden Feldern und schützenden Laubmischwäldern. Lustige Strohfiguren hocken vor den Zäunen der Grundstücke ? Von den zappligen Wiesen klappern laut die Adebare herüber. All das war vor Weselys Kamera ausgebreitet. Hätte er das Bild gemalt, könnte man seine Ansicht von Leibchel als Verkürzung betrachten. Seine Kamera hat jedoch nichts ausgelassen. Alles ist da, aber in einer Weise, die den Blick auf Details verweigert und den Betrachter zwingt, eine andere Sicht der Welt zu wagen. Die Rede ist hier nicht von den farbspezifischen psychologischen Wirkungen der Bildschichten, sondern von dem Element, das alle Werke der Serie Ostdeutschland am deutlichsten prägt, dem Horizont. Michael Wesely stellt uns Horizonte vor, bei denen die Grenzlinie zwischen Himmel und Erde so unscharf verläuft, dass sie als Beschreibung der örtlichen Bedingung der jeweiligen Landschaft wenig nützen. Weselys Horizonte dienen nicht der Wahrnehmung einer Grenze, sie sind vielmehr offen für einen weiter gehenden Weg. Den Horizont erweitern, heißt Erkenntnis gewinnen. Im März 2006 zeigte die Alte Nationalgalerie in Berlin eine Gegenüberstellung von drei großformatigen Farbfotografien Michael Weselys aus der Serie Ostdeutschland mit Bildern von Caspar David Friedrich, eine Annäherung, die erstaunliche Ähnlichkeiten zum Vorschein brachte. Friedrich wie Wesely beschreiben den Horizont in Absicht auf die Erweiterung der Erkenntnis, wie Kant es 1800 in der Einleitung seiner Vorlesungen zur Logik nannte. Doch da ist ein Unterschied: während Friedrich dem Betrachter Gestalten in Rückenansicht anbietet, die ihn als Identifikationsfiguren zum Horizont führen, geht Wesely weiter. Er lässt den Betrachter allein. Wenn je Begleiter da waren, hat er sie hinter sich gelassen. Wie weit ist es bis zum Horizont? Norbert Weber Inventory Number: 884miwe Image rights: Provinzial Kunstsammlung |
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