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Wasser

Objektbezeichnung:Grafik
Sachgruppe:Zeichnung / Grafik
Künstler:
Gertsch, Franz
Ort:Mit originalem Papierrand
Maße:H: 85 cm, B: 102 cm
Rahmen: H: 113 cm, B: 130 cm
Material:Papier
Technik:Holzstich
Stil:Hyper- / Fotorealismus
„Könnte man irgendwas von Zeit sich vorstellen, so winzig, daß es gar nicht mehr sich teilen läßt, auch nicht in Splitter von Augenblicken: solche Zeit allein wäre es, die man ?gegenwärtig? nennen dürfte; sie aber fliegt so reißend schnell von Künftig zu Vergangen, daß auch nicht ein Weilchen Dauer sich dehnt.“
Augustinus, Bekenntnisse, Elftes Buch, 15,20
Tropfen schmelzenden Eises fallen in eine beinahe ruhige, träge fließende Wasseroberfläche. In konzentrischen Kreisen breitet sich eine Welle aus, wird überschnitten durch die Ringe einer anderen. Das Licht bricht sich an den Wellenkämmen, die in weiten Bögen die Bildfläche durchlaufen. Es kommt zu Interferenzen, Muster mit grafischen Qualitäten entstehen. Die weiten Kreise auf der Wasseroberfläche sind eine momentane Erscheinung: Im Nu sind sie da, sind eben noch klein, breiten sich aus, werden schon weiter und nach einem Weilchen Dauer sind sie verschwunden und die Wasseroberfläche wird wieder klar.

Das großformatige Blatt „Wasser“ steht in einer Folge von Holzstichen mit Naturmotiven, die Franz Gertsch seit 1988 geschaffen hat. Auf enormen Formaten handgeschöpften Japanpapiers zeigen sie keine konkrete topografische Situation, sondern ausschnitthaft und zugleich überdimensioniert Landschaftsmotive, Pflanzenteile oder auch die Oberfläche fließender Gewässer. Die monochromen Abzüge in oft verfremdenden Farben verursachen eine besonders intensive Bilderfahrung. Dazu trägt neben der Farbe die fotorealistische Behandlung des Motivs und die außergewöhnliche Art des Holzstichs bei, die entfernt an den Weißlinienschnitt erinnert, bei dem die Linien nicht von den Holzstegen, sondern von den ins Holz geschnittenen Vertiefungen gebildet werden.
Zunächst fotografiert Franz Gertsch in der unmittelbaren Umgebung seines Hauses in Rüschegg im Kanton Bern Uferwege, Flussläufe, Steine, Gräser oder Wasseroberflächen. Diese Fotografien werden als Dia auf eine bis zu einem Format von 234 x 181 cm große, vertikal stehende Holzplatte projiziert, die später als Druckstock dient. Die Umrisslinien des Motivs werden fixiert, dann wird die Darstellung, so Gertsch, „ins Licht“ geschnitten. Mit einem Hohleisen hebt der Künstler kleine Punkte aus dem Holz. Diese vertieften Punkte nehmen die Druckfarbe nicht an und bleiben als helle Punkte auf dem Papier stehen. Die Darstellung setzt sich somit aus unzähligen dieser Lichtpunkte zusammen, die subtil den Lichtwerten des Motivs folgen: „Sie perlen auseinander, sprudeln hervor oder verdichten sich zu wolkenartigen Formationen, bei denen die hellen Punkte gleichwohl sichtbar bleiben“.
Der Holzstich „Wasser“ zeigt einen wie beiläufig, in einem unbestimmten Moment gewählten Bildausschnitt der Wasseroberfläche des Flusses Schwarzwasser. Nichts jedoch zeigt das Bild vom Fluss, seinem Ufer, seiner Umgebung. Diese Unbestimmtheit des Ortes und der Zeit, der Verzicht auf eine Bilderzählung und die Reduktion des Motivs „zwingt den Betrachter in eine bildinterne Konzentration“. Mit einer immer größeren Ausschnitthaftigkeit strebt Gertsch danach, „die Materialität der gegenständlichen Vorlage aufzulösen zugunsten der Oberflächenstruktur mikroskopischer Details. Dieses Blow-up und Pars pro toto [...] sieht sich im Falle des Naturausschnitts faktisch keiner Begrenzung ausgesetzt: Der herangezoomte Fokus führt nur immer tiefer in die punktuelle Unendlichkeit hinter den benennbaren Pflanzen und Gewässern und ergründet durch ihre Erscheinung hindurch so etwas wie ihre immanente Wesenhaftigkeit.“
Nicht nur das Wesenhafte des Elements Wasser, die Formlosigkeit des Flüssigen, die Fähigkeit Licht zu spiegeln und doch transparent zu sein, wird so mehrfach bearbeitet zu einem Phänomen der Oberfläche, sondern auch die Zeit, die sich auf der Wasseroberfläche als das kleine Weilchen Dauer der Kreise zeigte, wird in die Oberfläche des Bildes transponiert. Der handwerkliche Prozess der Bildentstehung gewinnt dabei an Bedeutung. Gertsch sticht die Millionen Lichtpunkte in beinahe ritueller Weise, hochkonzentriert und unter Verzicht auf jede spontane, handschriftliche Geste über lange Zeiträume hinweg ins Holz, ehe ein Druckstock fertig ist. Das flüchtige Moment, das im Motiv jener Kreise im Wasser selbst thematisiert wird, ist so aufgehoben in der langen Dauer der Bildbearbeitung und erscheint darüber hinaus auch in der Bildfläche selbst als die unzähligen lichten Punkte.
Die Zeit wird so ein Phänomen der Oberfläche des Bildes und mithin ein Phänomen, das während der Betrachtung des Bildes für den Rezipienten erfahrbar wird. Denn wie Augustinus um 410 n.Chr. in seinen Überlegungen, was die Zeit eigentlich sei, beschreibt, ist ein Dreifaches im Geiste: er erwartet, er nimmt wahr, er erinnert sich. Die Zeit ist nur als eine Tätigkeit des Geistes realisierbar, als die attentio des Geistes, die dauernde Wahrnehmung. Genau als diese wird das Wesen der Zeit bei der Bildbetrachtung reflektiert.

Durch seine Bearbeitung der Bilder, die eine quasi-spirituelle Naturerkenntnis durch die Bilderfahrung ermöglichen ? was ihn als Romantiker im besten Sinne des Wortes bestätigt ? entgeht Gertsch „jeglichem Idyllenverdacht“.
Darüber hinaus sind die Bilder von Franz Gertsch fern ab von einer bloß mimetischen Artistik. Als Fotorealist wurde er in den 1970er Jahren mit Gemälden in Riesenformaten berühmt. Auf der documenta 5 wurde er mit dem Bild „Medici“ als der europäische Vertreter des Fotorealismus gefeiert, bekannt sind auch die Bilder von Patti Smith aus den frühen 1980er Jahren und die Bilder seiner Familie aus dieser Zeit.
Dem landläufigen Vorurteil gegenüber dem Fotorealismus, dass mit der Radikalisierung der Erscheinung auf der Oberfläche das Bild nur selbstreferentiell thematisiert werde und dabei auf Deutung und Wertung völlig verzichtet würde, tritt Franz Gertsch entgegen. Die Erscheinung als Phänomen der Oberfläche zeigt gerade beim Holzstich „Wasser“, wie die Tiefe auch auf der Oberfläche ausgelotet werden kann.
Dörte Ahrens

Inventarnummer: 193frge

Signatur: Gegenständlich

Abbildungsrechte: Provinzial Kunstsammlung


Ikonographie:     
Natur