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krank |
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Die großformatige, 1998 entstandene Radierung Krank von Max Neumann zeigt eine rätselhaft anmutende, wenngleich in den Konturen fest umrissene, figurale Konstellation. Stehen die abbildlichen Momente auch in einer genuinen, weil bildnerisch begründeten Relation zu einem benennbaren Symbol, so widersetzt sich die Figur als Ganzes doch entschieden der Vereinnahmung durch den Betrachter. Formen beharren statt dessen auf einer Wirkmächtigkeit, die den Übergang zum rational nicht mehr Benennbaren offen hält. Erfahrung von Wirklichkeit erscheint folglich nicht länger in ein vorgegebenes Korsett eingebunden. Vielmehr beschreibt sie einen erweiterten Rahmen, innerhalb dessen es augenscheinlich nur schwer zu bewältigende Vorgaben gibt. Setzt Neumann in der kompositorischen Anlage auch auf bestimmte realistische Momente wie etwa auf die Wiedergabe einer figuralen Schulterpartie, eines Ohres oder einer Brille und vermittelt der Blick in einen kastenartigen Innenraum auch die nachhaltige Vorstellung des Räumlichen, so bleibt dieser scheinbare Illusionismus doch in eine, zwar geschlossene, gleichwohl freie bildnerische Struktur eingebunden. Deren Herkunft leitet sich in jedem Bild immer wieder aufs Neue und ohne kalkulierende kompositorische Vorgabe aus der künstlich erzeugten Zufälligkeit gänzlich freier Strukturen ab. Diese bedingen eine nach und nach verdichtete kompositorische Ordnung, die freilich keine Kuriositäten zu Tage fördert, sondern vielmehr Nebensächliches zu Gunsten einer strengen bildnerischen Anlage ausmerzt. Zu sehen ist in Neumanns Radierung die konturbetonte Silhouette einer schwarzen, leicht schräg positionierten Halbfigur, die, dinghaft und gänzlich handlungslos wiederum mit ihrem unteren abgerundeten Ende auf einem ?Sockel? balanciert. Als eigenständiges Objekt und in faktischer funktioneller Umkehrung beschreibt dieser einen Binnenraum, in dem eine einzelne Brille abgelegt wurde. Der S-förmig geschwungene Körper hingegen deutet in formal angepassten Durchbrüchen stilisierte Arme an und vermittelt auf diese Weise noch immer die Vorstellung einer vollständigen Figur. Zwei rhythmisch angepasste, gelenkartig verbundene Knochen im Bereich des Rumpfes akzentuieren die Vertikale und erinnern darüber hinaus an die Funktion einer Wirbelsäule. Das Gesicht der Figur hingegen wird durch eine ebenfalls leicht schräggestellte weiße Fläche verdeckt, auf der ein schwarzes Kreuz zu sehen ist. Obwohl die Verwendung von Farbe sich lediglich auf den ?Sockel? beschränkt wurde, erinnert die charakteristische Form des Kreuzes zweifelsohne an die humanitäre Organisation des Roten Kreuzes. Lediglich ein einzelnes, wenn auch augenfälliges Ohr deutet die Physiognomie des Kopfes an, der von einem rautenförmigen Hut bedeckt wird. Alle Bildelemente weisen eine geschlossene Form auf. Sie stehen in einem eindeutig definierten Zusammenhang und sind zudem leicht einsehbar. Gleichwohl durchbricht Neumann eine stringent vorgetragene Erzählhaltung und konfrontiert den Betrachter, trotz, oder besser: gerade wegen seiner bestimmenden ästhetischen Verbindlichkeit, mit einer dialektisch angelegten, wenn auch formal austarierten Bildstruktur. Realistische Momente verbinden sich zäsurlos mit freien Formen, ohne dass es jedoch letztendlich möglich erscheint, die Genese beider Bereiche zu klären. Was indes zählt, ist die formale und inhaltliche Präsenz als solche. Wirklichkeit wird nicht länger im lediglich Wiedergebenden erfahren, sondern sie wird vielmehr mit den Mitteln des Zeichenhaft-Abbildlichen inszeniert, freilich ohne dass diese jemals Anlass zu einer vollständigen Identifizierung bieten. Neumann erschließt auf diesem Wege eine unkontrollierbare Zwischenzone des Bewusstseins. Innen- und Außenwelt, rational begründbares Wissen und emotionale Aneignung scheinen in ein Vexierspiel eingebunden. Bleiben dessen zeichenhafte Parameter auch noch immer benennbar, so schließen sie dennoch in der Summe eine geschlossene Erzählhaltung ebenso aus wie die zumindest denkbare Versuchung einer diffusen phantastischen Überhöhung. Alle Bildteile erscheinen hingegen in bedrängender Gegenwärtigkeit und bezeugen zugleich eine strukturelle Verrückung. Die Halbfigur etwa mutiert im Beckenbereich zu einer runden Form und balanciert als solche auf einem in den Dimensionen offenbar angepassten ?Sockel?. Dieser bietet jedoch keine tektonisch begründete Sicherheit, sondern hebt das Moment des Kubisch-Plastischen im eigenen, autonom begründeten Motiv geradezu auf, indem es in kontrapunktischer Setzung einen räumlichen Einblick erschließt. Mag auch im Verlauf der figuralen Außenkontur oder aber in der Form der durch das Kreuz markierten weißen Fläche im Gesichtsbereich eine verhaltene Plastizität angedeutet sein, so wird die kompositorische Gesamtanlage durch die räumliche Verkehrung des ?Sockels? auf geradezu surreale Weise in der Wirkung enorm gesteigert. Die Schematisierung der Figur hingegen erfährt durch die einer Wirbelsäule durchaus vergleichbare Knochenformation eine pointierte, und daher in der Bildstruktur überaus gewichtige, körperliche Aufwertung, während der Kopf als figurales Zentrum wiederum durch die vorgeblendete weiße Fläche faktisch eliminiert wird. Das vereinzelte Ohr wie auch die Brille hingegen verweisen in ihrer irritierenden Isolierung auf die menschlichen Sinne und vermitteln, wie im Übrigen auch die ?Wirbelsäule?, noch einmal die Vorstellung des Körperlichen. Das eigentliche Bildthema der Krankheit erschließt sich folglich aus der Verbindung zwischen der Kreuz-Metapher und den wenigen, wenn auch dezidiert vorgeführten körperlichen Momenten. Dabei ist es nicht zuletzt die inszenatorische Apodiktik in Verbindung mit dem auffallenden Format der Radierung, die Neumanns Komposition vor einer psychologisch motivierten, subjektiven Vereinnahmung bewahrt. Krankheit wird als ein gänzlich unpersönlicher, allgemeiner körperlicher Zustand beschrieben. Von diesem geht, gerade durch seinen diffusen, unbenennbaren Ursprung, ein großes Bedrohungspotential aus. Krankheit bedingt die Verkehrung der Normalität, freilich ohne dass kausale Sinnzusammenhänge hergestellt und erklärt werden. Diese erheben vielmehr einen Anspruch formaler Konkruenz. Will heißen: Es sind zuvorderst die darstellenden Formen selbst, die das Thema der Krankheit in einer übergeordneten inszenatorischen Konstellation zum Ausdruck bringen. Die medizinisch begründete Auflösung wird folglich ebenso von vorn herein kategorisch ausgeschlossen wie eine subjektiv begründete, empathische Identifikation. Es sind daher die bildnerischen selbst Formen, deren Wirkungspotential sich sukzessive auf das körperliche Befinden des Betrachters überträgt und diesen in einem Zustand zwischen Wachheit und traumatischer Erfahrung versetzt. Uwe Haupenthal Inventarnummer: 207mane Signatur: Abstrakt Abbildungsrechte: Provinzial Kunstsammlung
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